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Tierkadaver fördern Biodiversität

Siebert, Ina [Ina Siebert1] - 22. Apr 2022, 07:30
Im Biologie-Unterricht wird der Stoffkreislauf mit Produzenten, Konsumenten und Destruenten gelehrt. Im Umgang mit der Natur dagegen werden die Destruenten oftmals ausgeblendet. Die Natur wird aufgeräumt; totes Material, ob pflanzlich oder tierisch, wird entfernt. Damit werden nicht nur den Zersetzern Nahrungsmöglichkeiten entzogen, sondern Hunderten bis Tausenden von Lebewesen, wie verschiedene Untersuchungen in der Kadaverökologie zeigen. 
 
Aus hygienischen Gründen werden die Kadaver großer Tiere beseitigt. Dabei stehen in der Natur Bakterien, Pilze, Gliederfüßer und Wirbeltiere zur Verwertung bereit. Aas ist für viele Tiere eine wichtige Nahrungsquelle – und einige davon sind wiederum selbst Nahrung für andere. So fressen manche Insekten und Vögel nicht am toten Körper, sondern picken die sich hier entwickelnden Maden. Nährstoffe des toten Tieres gelangen in den Boden und führen mit der Zeit zu einem erhöhten Pflanzenwachstum im Umkreis.
Rotmilan, (c) Peter Trentz/NABU-naturgucker.de
Rotmilan
(c) Peter Trentz/NABU-naturgucker.de
Nahrungsnetze an Aas waren das Thema des Projekts NECROS der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg mit dem Landesbetrieb Forst Brandenburg unter Leitung von Dr. René Krawczynski.[1] Auf einem ehemaligen Truppenübungsplatz wurden bei Unfällen oder mit bleifreier Munition bei der Jagd getötete → Rehe (Capreolus capreolus)
→ Rothirsche (Cervus elaphus) und → Wildschweine (Sus scrofa) ausgelegt. Wildkameras zeigten unter anderem → Kolkraben (Corvus corax) und → Seeadler (Haliaeetus albicilla), die sich am Fleisch bedienten, oder Wildschweine und → Rotmilane (Milvus milvus) an den Knochen. → Meisen (Paridae) fraßen sowohl das Fleisch als auch die Insekten und nutzten zudem die Haare als Nistmaterial. 95 Vogel- und Säugetierarten profitierten in Pilotstudien des niederländischen Circle of Life-Programms von Rewilding Europe und ARK Natuurontwikkeling von ausgelegten Kadavern in den Niederlanden, Belgien und Deutschland.[2]
Italienische Schönschrecke bei der Eiablage, (c) Hans Schwarting/NABU-naturgucker.de
Italienische Schönschrecke bei der Eiablage
(c) Hans Schwarting/NABU-naturgucker.de
Bei den Insekten ist die Artenzahl um ein Vielfaches höher. Hunderte Käfer- und Fliegenarten sowie eine unbekannte Anzahl von Insekten weiterer Ordnungen finden laut Circle of Life Lebensraum und Nahrung an und um Kadaver. Im Projekt NECROS gab es teils erstaunliche Entdeckungen, die das bisherige Wissen über Insekten erweitert haben. So fraßen auch eigentlich als vegetarisch geltende Heuschrecken wie die → Italienische Schönschrecke (Calliptamus italicus) an den Kadavern, desgleichen→ Feuerwanzen (Pyrrhocoridae), und an den Knochen saugten verschiedene Schmetterlingsarten sowie → Honigbienen (Apis mellifera).
Gerippter Totenfreund, (c) Marion Metzer/NABU-naturgucker.de
Gerippter Totenfreund
(c) Marion Metzer/NABU-naturgucker.de
Zu erwarten waren auf Aas spezialisierte Käfer wie der → Gerippte Totenfreund (Thanatophilus sinuatus), die → Rothalsige Silphe (Oiceoptoma thoracicum) und → Totengräber (Nicrophorus). Überrascht waren die Forschenden von der beachtlichen Aktivität der Insekten an im Winter ausgelegten Kadavern. Räuberische Käfer erreichten ihr Maximum im Frühjahr bis zum Frühsommer. Im Herbst dominierten Fliegen und ihre Larven. 400.000 Maden sollen im letzten Larvenstadium im Boden rund um den Kadaver überwintern und bilden damit eine reichhaltige Nahrungsquelle für räuberische Insekten und Vögel.
Totengräber, (c) Werner Deichmann/NABU-naturgucker.de
Totengräber
(c) Werner Deichmann/NABU-naturgucker.de
Beide Projekte belegen die bedeutende Rolle von Kadavern für die Ökosysteme und die Biodiversität. Bestätigt wird dies ebenfalls von Forschungen im Nationalpark Bayerischer Wald.[3] Über 13.700 Arten gibt es im Nationalpark insgesamt. An den dort ausgelegten Kadavern wurden 6.000 Arten nachgewiesen – in der großen Mehrzahl Bakterien und Pilze sowie 139 Insektenarten und 17 größere Aasfresser wie → Rotfüchse (Vulpes vulpes). „Wir kriegen extrem seltene Arten, wenn wir tote Tiere liegen lassen. […] Wenn wir die Dinge so belassen, wie sie in der Natur ablaufen, können wir die Artenvielfalt hochhalten und verlieren die Arten nicht aus dem System“, so der Kadaverökologe Dr. Christian von Hoermann. Europäische Richtlinien gestatten dies und sogar die Auslegung von Haustierkadavern als Nahrung für Arten der FFH- und Vogelschutzrichtlinien. Praktiziert wird es in Deutschland bislang selten. Eine Ausweitung auf alle 16 Nationalparks mit wissenschaftlicher Begleitung und Einbeziehung der Öffentlichkeit wird derzeit vorbereitet und beantragt.[4]
Rotfuchs, (c) Rolf Jantz/NABU-naturgucker.de
Rotfuchs
(c) Rolf Jantz/NABU-naturgucker.de


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