
Wissen
Hintergründe und Neues aus der Forschung leicht verständlich erklärt
Selbst zahlreiche Säugetierarten sind noch unentdeckt
Siebert, Ina [Ina Siebert2] - 8. Apr 2022, 07:30
Wie viele Arten gibt es auf der Erde? Nach wie vor wissen wir es nicht einmal annähernd. Es wird geschätzt, dass nur 1 bis 10 Prozent aller derzeit lebenden Spezies beschrieben sind. Diese Lücke ist lange bekannt und trägt in der englischsprachigen Wissenschaftsgemeinde den Namen „Linnean Shortfall“. Benannt ist sie nach dem schwedischen Naturforscher → Carl von Linné, der die wissenschaftlich eindeutige Benennung der Arten (Nomenklatur) entwickelt hat.

Gelbhalsmaus – schwer zu unterscheiden von ihrer nahen Verwandten, der Waldmaus
(c) Kerstin Karg/NABU-naturgucker.de
(c) Kerstin Karg/NABU-naturgucker.de
Um die Lücke zumindest ein wenig zu verkleinern, werden zahlreiche Ansätze wie genetische Untersuchungen, maschinelles Lernen und Big Data verwendet. Eine aktuelle Studie von Forschenden der Ohio State University hat nun gezeigt, dass nicht einmal die Säugetiere so gut untersucht sind wie angenommen. Hunderte Arten bzw. 20 Prozent der Säuger könnten noch unentdeckt sein.[1]

Waldmaus – schwer zu unterscheiden von ihrer nahen Verwandten, der Gelbhalsmaus
(c) Hermann Klee/NABU-naturgucker.de
(c) Hermann Klee/NABU-naturgucker.de
Herausgefunden haben sie das mit DNA-gestützter Modellierung. Von 4.310 bekannten Säugetierarten werteten sie Millionen Gensequenzen aus und verknüpften sie mit 117 spezifischen Merkmalen wie Informationen zu Verwandtschaft, Vorkommen und Lebensweise. Auf dieser Grundlage entwickelten sie ein Modell zur Vorhersage, in welchen Säugetiergruppen es noch unerforschte Arten geben könnte.

Kleine Hufeisennase, Höhlentier des Jahres 2022
(c) Jonas Blaumann/NABU-naturgucker.de
(c) Jonas Blaumann/NABU-naturgucker.de
Insbesondere bei kleinen Tieren mit großer Verbreitung über verschiedene Temperatur- und Niederschlagszonen hinweg dürfte dies der Fall sein. Je variabler die Lebensbedingungen, desto eher bilden sich verschiedene Arten heraus, die jeweils unterschiedliche ökologische Nischen besetzen. Konkret gilt dies wahrscheinlich vor allem für Nagetiere, Fledermäuse und Insektenfresser. Bei diesen Spezies können sich die Tiere so ähnlich sehen, dass erst genetische Untersuchungen ihre Zugehörigkeit zu getrennten Arten verraten.

Gut bekannt: der Westeuropäische Igel
(c) Michael Benteler/NABU-naturgucker.de
(c) Michael Benteler/NABU-naturgucker.de
Warum ist es eigentlich so wichtig, dass wir mehr über die Bedürfnisse und Lebensweisen bislang unbekannter Spezies erfahren? 1 Million Arten sind vom Aussterben bedroht; täglich verlieren wir 150 Arten – teils, ohne sie überhaupt jemals erforscht zu haben. Je mehr von ihnen aussterben, desto dünner wird das ökologische Netz, auf dem auch unser Leben aufbaut. Um sie schützen zu können, müssen wir so viel wie möglich über die Arten wissen.
Beitrag der Bürgerwissenschaften
Dabei können die Bürgerwissenschaften eine unterstützende und wichtige Rolle spielen. Neben dem „Linnean Shortfall“ gibt weitere große Wissenslücken der Biodiversität.[2] Dazu gehört ein nach dem britischen Naturforscher und Begründer der Tiergeografie, → Alfred Russel Wallace, benanntes Defizit, was unser Wissen über die tatsächliche Verbreitung der bekannten Arten angeht. Hier können die von engagierten Ehrenamtlichen zusammengetragenen Naturbeobachtungsdaten helfen, die ihre Sichtungen auf bürgerwissenschaftlichen Plattformen wie → NABU-naturgucker.de hochladen. Anfang April sind hier fast 14 Millionen Beobachtungen weltweit eingetragen. Über 112.000 Aktive haben diese bislang zusammengetragen.
Mehr über Säugetiere erfahren
Ihr wollt mehr über Fledermäuse und andere Säuger wissen? Zum Beispiel wie sie sich fortpflanzen und wie sie an die jahreszeitlichen Unterschiede angepasst sind? Dann schaut doch mal in unser kostenloses Lernangebot → Säugetiere.
[1] Danielle J. Parsons, Tara A. Pelletier, Jamin G. Wieringa, Drew J. Duckett, and Bryan C. Carstens. Analysis of biodiversity data suggests that mammal species are hidden in predictable places. Proceedings of the National Academy of Sciences, April 5, 2022 Vol. 119 No. 14. DOI: → 10.1073/pnas.2103400119
[2] Joaquín Hortal, Francesco de Bello, José Alexandre F. Diniz-Filho, Thomas M. Lewinsohn, Jorge M. Lobo, Richard J. Ladle. Seven Shortfalls that Beset Large-Scale Knowledge of Biodiversity. Annual Review of Ecology, Evolution, and Systematics 2015 46:1, 523-549. DOI: → 10.1146/annurev-ecolsys-112414-054400